Ioanna Anastasopoulou (Ι.Α.): Lieber Herr Prof. Roxin, wir danken Ihnen sehr, dass Sie sich bereit erklärt haben, unserer griechischen e-Zeitschrift "The Art of Crime" ein Interview zu geben. Es gibt in Griechenland wohl kaum einen Strafrechtler, der Ihren Namen nicht kennt; Erwartungsgemäß werden also auch jetzt Ihre Worte mit Spannung erwartet. Nun möchte ich Sie einleitend fragen, welche Denker und Persönlichkeiten bzw. welche akademischen Lehrer neben Ihrem Lehrer "Heinrich Henkel" Ihre Haltung, Ihre Denkweise und Ihre wissenschaftliche Arbeit besonders beeinflußt haben.
Claus Roxin (C.R.): Meine wissenschaftliche Arbeit ist außer von meinem Lehrer Heinrich Henkel besonders von Engisch, Gallas und Welzel beeinflusst worden. Die kritische Auseinandersetzung mit Welzel hat die Entwicklung meiner eigenen systematischen Konzeption sehr gefördert.
I.A.: Im Jahr 1963 wurden Sie Ordinarius für Strafrecht, Strafprozeßrecht und allgemeine Rechtslehre an der Universität Göttingen, dann wechselten Sie im Jahr 1971 – nach Ablehnung anderer Rufe– an die Universität München als Nachfolger von Reinhard Maurach. Inwieweit haben die politischen Auseinandersetzungen der 70er Jahren, aber auch der sog. kalte Krieg, sowie die in der Bundesrepublik bis dahin nicht gekannte Welle terroristischer Anschläge ihr wissenschaftliches Werk beeinflußt?
C.R.: Die Studentenunruhen in Göttingen haben meinen Weggang nach München beeinflusst. Die politischen Auseinandersetzungen der 70er Jahre haben mein Engagement für ein liberal-rechtsstaatliches Strafrecht verstärkt.
Ι.Α.: Ihre Leistung besteht nicht nur in Ihrem sehr umfangreichen wissenschaftlichen Werk, sondern auch in der darüber hinausreichenden Wirkung auf die Kriminalpolitik. Schon als junger Rechtslehrer beteiligten Sie sich ab 1966 an der Erstellung und Vorlage der so genannten "Αlternativ-Entwürfe" des deutschen Strafgesetzbuches. Inwieweit haben diese "Αlternativ-Entwürfe" die Erneuerung des deutschen Rechtssystems beeinflußt und welche wesentlichen Punkte davon wurden Ihrer Meinung nach nicht in vollem Umfang berücksichtigt?
C.R.: Der Alternativ-Entwurf hat die deutsche Reform des Allgemeinen Teils (1969/1975) nachhaltig beeinflusst. Die Reform ist dem Alternativ-Entwurf aber nicht in allen Punkten gefolgt; so hat er die kurzfristige Freiheitsstrafe zwar zurückgedrängt, aber nicht abgeschafft. Die Einzelheiten lassen sich einem Vergleich beider Gesetzestexte entnehmen.
Ι.Α.: Sie haben einmal erklärt, dass man Ihre bis heute durchgehaltene Strafrechtskonzeption als ein Kontrastprogramm gegenüber dem Strafrecht der Zeit des Nationalsozialismus verstehen kann: Τatstrafrecht statt Gesinnungsstrafrecht, Rechtsgüterschutz statt Pflichtverletzung, Individualschutz statt Systemschutz usw. Welche sind Ihrer Meinung nach in der heutigen Zeit die wichtigsten Herausforderungen für ein rechtsstaatliches Straf- und Strafprozeßrecht?
C.R.: Die wichtigste Herausforderung für ein rechtsstaatliches Straf- und Strafprozessrecht besteht darin, die freiheitlichen Errungenschaften unserer strafrechtlichen Reformzeit der 60er und 70er Jahre zu bewahren. Die zahlreichen Alternativ-Entwürfe zum deutschen Straf- und Strafprozessrecht, an denen ich mitgearbeitet habe, bemühen sich um die Weiterentwicklung eines rechtsstaatlichen Resozialisierungsstrafrechts. Dazu stehe ich noch heute.
Ι.Α.: Sie haben sich tiefgehend auch mit den rechtsphilosophischen Grundlagen des modernen Strafrechts beschäftigt. Wie hat sich diese Auseinandersetzung in ihrem strafrechtlichen Werk niedergeschlagen, insbesondere in Ihr Verständnis der Straftat als Rechtsgutsverletzung und in Ihre Lehre von der objektiven Zurechnung?
C.R.: Über die Rechtsgutslehre habe ich mich ausführlich in der Festschrift für Hassemer, 2010, S. 573 ff. geäußert. Sie geht auf das Strafrechtsdenken der Aufklärung zurück. Die Lehre von der objektiven Zurechnung ist philosophisch von Hegel beeinflusst.
Ι.Α.: Vielleicht hat kein anderes Werk der jüngeren deutschen Strafrechtsdogmatik die deutsche, die europäische und die internationale Strafrechtslehre sosehr beeinflusst wie Ihre erstmals 1963 erschienene Habilitationsschrift "Täterschaft und Tatherrschaft", die mittlerweile in neunter Auflage erschienen ist. Die in diesem Buch erstmals entwickelte Lehre von der "mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate" wurde in den 90er Jahren vom Bundesgerichtshof bei der Aufarbeitung der Untaten des SED-Regimes übernommen. Es wird allgemein angenommen, dass diese Arbeit eine moralische Genugtuung von Millionen von Opfern autoritärer Regime auf der ganzen Welt ermöglicht hat. Schwante Ihnen eigentlich so eine Konsequenz dieser Lehre in Ihrer Vorstellung oder hatten Sie sie vielmehr angestrebt als Sie sie anfänglich niedergeschrieben hatten?
C.R.: Ich hatte gehofft, dass der deutsche Bundesgerichtshof meine Lehre von den organisatorischen Machtapparaten übernehmen würde (was dann erst nach 30 Jahren geschehen ist). Ich wollte damit eine gerechte Bestrafung führender nationalsozialistischer Gewaltverbrecher erreichen. Inzwischen ist meine Lehre auch in anderen Teilen der Welt aufgenommen worden (besonders gründlich in Peru).
Ι.Α.: Das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) hat neulich den „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft“ veröffentlicht. Kernstück dieses Gesetzesentwurfs ist das "Gesetz zur Sanktionierung von verbandsbezogenen Straftaten“ (Das Verbandssanktionengesetz [VerSanG-E]). Εs wird die Ansicht vertreten, dass im Wesentlichen wohl hierbei künftig mit der Verwirklichung dieses VerSanG-E ein Unternehmensstrafrecht entsteht, als eine vermeintlich angemessene Reaktion auf die Unternehmenskriminalität. Wie stehen Sie zu dieser Entwicklung und welche Fragen werden Ihrer Meinung nach diesbezüglich die deutsche Strafrechtswissenschaft in der Zukunft beschäftigen müssen?
C.R.: Verbandssanktionen sind jedenfalls keine Strafen. Straftaten können nur von schuldhaft handelnden Menschen begangen werden. Das Verbandssanktionen-Gesetz, das im Entwurf vorliegt, ist im Einzelnen sehr problematisch.
Ι.Α.: Es wird oft die Behauptung aufgestellt, dass es an einer grundlegenden Analyse, Bewertung und Reform des europäischen Strafrechtssystems in seiner Gesamtheit fehlt. Der Begriff "Εuropäisches Strafrecht" wird dabei in einem weiten Sinne verstanden und umfaßt sowohl supranationales Strafrecht der Europäischen Union und des Europarats als auch europäisiertes nationales Strafrecht. Wie weit entfernt sind wir von einem systematischen Gesamtkonzept oder gar ein System des Europäischen Strafrechts?
C.R.: In grundlegenden Fragen des Strafrechts gibt es eine weitgehende Zusammenarbeit Deutschlands mit den südeuropäischen Ländern (von Griechenland bis Portugal). Die Zusammenarbeit mit Frankreich und den Ländern des anglo-amerikanischen Rechtskreises steckt noch in den Anfängen, entwickelt sich aber. Doch sind wir von einem gesamteuropäischen Strafrecht noch weit entfernt.
Ι.Α.: Εs ist bekannt dass die Ausstrahlung Ihrer Schriften sehr groß in Ländern wie Spanien, Italien, Griechenland, oder in den Weltregionen Südamerika und Asien ist. Inwieweit trägt diese wissenschaftliche Anerkennung zu der von Ihnen und von Ihren Schülern so bezeichneten "internationalen Strafrechtsdogmatik" bei?
C.R.: Ich hoffe sehr, dass meine Arbeiten, die in den von Ihnen genannten Ländern und Regionen weit verbreitet sind, zur Entwicklung einer internationalen Strafrechtsdogmatik beitragen können.
Ι.Α.: Vor kurzem wurde die 5. Auflage Ihres Lehrbuchs "Strafrecht-Allgemeiner Teil" veröffentlicht. Der neue Bearbeiter dieses großen Werkes ist Ihr Schüler, der Brazilianer Prof. Dr. Luis Greco, der seit 2017 Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, ausländisches Strafrecht und Strafrechtstheorie an der Humboldt-Universität zu Berlin ist. Können Sie uns etwas über Ihre Entscheidung erzählen, mit diesem hochbegabten Strafrechtler zusammenzuarbeiten?
C.R.: Herr Greco kam als 22-jähriger junger Jurist nach München, um bei mir zu promovieren. Ich habe seine hervorragende Begabung bald erkannt und nach seiner exzellenten Dissertation beschlossen, ihm die Bearbeitung meines Lehrbuchs zu übertragen.
Ι.Α.: An welchen wissenschaftlichen Themen bzw. Veröffentlichungen arbeiten Sie gerade?
C.R.: Ich habe eine Arbeit über die „actio libera in causa“ abgeschlossen und schreibe jetzt über die Garantenstellungen beim unechten Unterlassen.
Ι.Α.: Ihre Frau ist eine sehr bekannte und erfolgreiche Strafverteidigerin. Sie haben einmal erklärt, dass Sie einen mittelbaren Praxisbezug dadurch gewahrt haben, dass Sie einander wechselseitig beraten haben. Wie hat dieser mittelbare Praxisbezug und diese Beratung auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
C.R.: Die Zusammenarbeit mit meiner Frau ist für mich unentbehrlich. Sie liest alle meine Arbeiten vor der Veröffentlichung und wir diskutieren darüber. Das fördert mich in der Suche und sichert die Praxistauglichkeit meiner Texte.
Ι.Α.: Was würden Sie den jungen griechischen Strafrechtlern empfehlen, um aktiver an der europäischen und internationalen Strafrechtsdiskussion teilzunehmen?
C.R.: Griechische Strafrechtler sollten in deutschen Fachzeitschriften publizieren, wie dies vielfach schon geschieht. Auch spanische und italienische Veröffentlichungen sind hilfreich.
Ι.Α.: Welche Ihrer Schriften würden Sie einem jungen Studenten, in die Hand geben als Lektüre, die ihr Studium beeinflussen und inspirieren soll?
C.R.: Mein Lehrbuch und das Werk über „Täterschaft und Tatherrschaft“.
Ι.Α.: Lieber Professor, nochmal herzlichen Dank, es war eine große Ehre und Freude dieses Interview mit Ihnen zu führen.
C.R.: In der Hoffnung, Sie durch meine Antworten einigermaßen zufriedengestellt zu haben, grüßt Sie herzlich.