Ioanna Anastasopoulou (I.A.): Professor Greco, im Alter von 39 Jahren sind Sie einem Ruf als ordentlicher Professor an die Humboldt-Universität zu Berlin gefolgt (Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, ausländisches Strafrecht und Strafrechtstheorie). Jura haben Sie in Brasilien studiert, und später – vor einigen Jahren – das Εrste Staatsexamen in Deutschland abgelegt. In der Zwischenzeit haben Sie in München promoviert und habilitiert. Sie haben zahlreiche Monographien und Aufsätze geschrieben. Mit Recht würde man sagen, dass Sie schon einen bemerkenswerten, warum nicht phänomenalen Weg in dem deutschen akademischen Bereich hinter sich haben. Wir möchten Sie fragen, ist es nicht wahr, dass ein entscheidender Moment in Ihrer Kariere die Affinität in der rechtswissenschaftlichen und rechtsdogmatischen Grundlage Ihres Herkunftslandes und Deutschlands ist?
Luis Greco (L.G.): Im Nachhinein lässt sich immer schwer sagen, warum etwas gut funktioniert, woran es genau lag. Ich kann allenfalls einige Faktoren benennen. Dazu würde ich eine Nähe von deutschem und brasilianischem Recht eher nicht rechnen. Zwar kennt die brasilianische Strafrechtsdogmatik die Unterscheidung von Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld, zwar sind die Namen Mezger, Welzel und später Roxin relativ bekannt; über diese Äußerlichkeiten hinausgehende Gemeinsamkeiten gibt es aber nicht wirklich. Ich glaube, dass der entscheidende Faktor, der außerhalb meiner Liebe zum Fach liegt, die glückliche Begegnung mit drei außergewöhnlichen, offenen, großzügigen Persönlichkeiten war: Claus Roxin, meinem Betreuter des LL.M. und der Promotion; Bernd Schünemann, an dessen Lehrstuhl ich fast zehn Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter war, und der mein Habilitationsvater ist; und Jürgen Wolter, der mir die Türe zu Goltdammer’s Archiv geöffnet hat. Alle drei haben mich immer nur als das behandelt, als das ich mich fühlte – als Wissenschaftler. Herkunft hat für die drei nie eine Rolle gespielt.
Ι.Α.: Wir haben eine sehr ähnliche Situation in Griechenland. Unser Strafrecht aber auch unsere strafrechtsdogmatische Tradition sind von der deutschen Strafrechtswissenschaft tief geprägt. Wie Sie vielleicht wissen, haben griechische Strafrechtswissenschaftler in Deutschland, wie z.B. München oder Frankfurt, als akademische Räte gearbeitet, und anschließend in Griechenland Professuren angenommen. Den Grund für diesen Einfluß können wir in Griechenland historisch erklären. Der erste König Griechenlands war ein Wittelsbacher und hat das damalige bayerische StGB als Grundlage für das griechische StGB und Strafrecht genommen. Wie war es eigentlich in Brasilien oder aber auch in anderen südamerikanischen Ländern?
L.G.: Wie gesagt, in Brasilien ist der deutsche Einfluss vergleichsweise bescheiden. Das Lehrbuch von v. Liszt liegt in brasilianischem Portugiesisch vor; unsere größten Strafjuristen im 20. Jahrhundert (Hungria, Bruno, Fragoso) kannten die deutsche Strafrechtsdogmatik. Der deutsche Einfluss kam aber zu einem nicht unbeträchtlichen Teil indirekt, über Portugal und Spanien, die ein viel engeres Verhältnis zu Deutschland haben als wir. Auch Mezger und Welzel waren in Brasilien zu einem wohl größeren Teil wegen Portugal (zwei der wichtigsten portugiesischen Strafrechtler, Correia und Cavaleiro de Ferreira, waren Gastwissenschaftler bei Mezger im Rahmen der Promotion) und Spanien (zahlreiche Übersetzungen). Man muss bedenken, dass noch zu meiner Studienzeit die meisten angesehenen brasilianischen Juristen, mit deren Lehrbüchern wir gelernt haben, nicht einmal promoviert waren.
Für die weiteren südamerikanischen Länder kann ich schlecht sprechen; Brasilien und das restliche spanischsprechende Südamerika sind kein wirklich gemeinsamer kultureller Raum. Die Beziehung zu Deutschland scheint in einigen von ihnen, vor allem in Argentinien, dann auch in Kolumbien, Chile und Peru traditionell enger gewesen zu sein.
Ι.Α.: Wenn es wahr ist, dass im europäischen Rechtsraum kontinentales Recht (darunter natürlich auch deutsches Recht) und englisch-amerikanisches Recht bis zu einem gewissen Punkt konvergieren – siehe z.B. das Buch „Core Concepts in Criminal Law and Criminal Justice“ (Ambos/Duff/Roberts/Weigend/Heinze [Ed.]), kann dasselbe für die deutsche Strafrechtsdogmatik gelten oder wird diese Annäherung im gesamten Strafrechtsbereich zu Lasten der deutschen Strafrechtsdogmatik gehen, weil letztere zu doktrinär, systematisch und kompliziert für das angelsächsische Recht sei?
L.G.: Ich bin der Meinung, dass die deutsche Strafrechtsdogmatik so kompliziert ist, wie der Stoff es erfordert. Natürlich kann ich die Welt so aufteilen, dass alles sehr einfach ist; ich kann etwa sagen, ich kenne nur drei Farben, Schwarz, Weiß und alles Dazwischenliegende. Dann habe ich die Dinge vereinfacht, aber zugleich auch verarmt, als wäre alles Dazwischenliegende einerlei. Eine gute Strafrechtsdogmatik muss dem Phänomen Recht, das viele Zwischentöne kennt, gerecht werden. Es ist also nicht kompliziert, sondern angemessen, Unrecht und Schuld, Kausalität und Zurechnung, Täterschaft und Teilnahme voneinander zu unterscheiden.
I.A.: Wird das monumentale Werk Roxins zum Allgemeinen Teil des deutschen Strafrechts (Sie waren ja in der letzten Auflage Βearbeiter) oft gelesen und zitiert und zwar nicht nur in Brasilien, sondern auch z.B. in Argentinien, Chilien, Peru, Kolumbien etc?
L.G.: Das Lehrbuch von Roxin wurde durch Prof. Diego Luzón (Alcalá/Madrid, Spanien) und seine Schüler ins Spanische übersetzt (2. Aufl. des 1. Bd.; 2. Bd.). Dadurch konnte es einen sehr großen Einfluss in ganz Lateinamerika entfalten. Mit meinen Schülern arbeite ich gerade an einer portugiesisch-brasilianischen Übersetzung der aktuellen (5.) Auflage des 1. Bd. Viel wird aber schlicht falsch verstanden oder sogar tendenziös rezipiert. Ein Beispiel ist die Tatherrschaftslehre, die immer wieder als strafrechtliche Verantwortung qua Innehabung einer Stellung missverstanden wird (näher Greco/Leite, ZIS 2014, 284).
Ι.Α.: Wir haben gesehen, dass Sie an der Humboldt-Universität ein recht internationales Gästeteam haben, mit vielen Wissenschaftlern hauptsächlich aus dem fernen Osten und Südamerika. Würden Sie eine engere Zusammenarbeit mit griechischen Strafrechtswissenschaftlern auch begrüßen
L.G.: Und wie! Die Türe meines Lehrstuhls ist für griechische Wissenschaftler offen. Ich lese gerne die Arbeiten der vielen Griechen – seit Androulakis über Mangakis, Mylonopoulos und die neueren, die ich nicht mehr namentlich erwähnen kann, weil sie so viele sind – die in Deutschland publiziert haben, und muss immer über ihr Niveau staunen. Dabei bedauere ich zugleich, dass ich den Reichtum dieser Lehre nicht im Original kennenlernen kann. Äußerst gerne würde ich meine Beziehungen zu einer Kultur stärken, die ich so bewundere, in der buchstäblich alles, was wir heute für bedeutsam halten, begonnen hat.
Ich erlaube mir einige persönlichen Bemerkungen: Es war Platon, den ich in meinem ersten Studiensemester entdeckt habe, der mich für die Philosophie und das Recht begeistert hat; in meinem Vorlesungsskript für Studenten des ersten Semesters spreche ich gleich am Anfang ein wenig vom Humboldt’schen Bildungsideal und empfehle unter der „weiterführenden Literatur“: „Zum Zusammenhang von Bildung, Wissen und Glück – unübertroffen! – Platon, Der Staat, Buch 7, 9 (Grundstein der abendländischen Kultur – am besten ganz lesen).“ Die aristotelischen Gedanken über die Tugend habe ich versucht, für das Strafprozessrecht fruchtbar zu machen (FS Wolter, 2013, S. 61 ff.). Auch meine Liebe zur Ilias ist nicht nur wissenschaftlich (GA 2009, 636, 638), sondern auch auf einer persönlichen Ebene dokumentiert: denn mein Hund heißt (auf Portugiesisch) Aquiles...